Dienstag, 23. April 2013

[Buchtipp] "Hikikomori" von Kevin Kuhn

Till hat alle Freiheiten: er geht auf »die freieste Waldorfschule der Welt«, seine Eltern — ein anthroposophisch motivierter Schönheitschirurg und die Kuratorin eines innovativen SchauRaums — fördern ihn, wo sie nur können. Als er nicht zum Abitur zugelassen wird, ist er plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen und beginnt nachzudenken: Was soll aus mir werden, fragt er sich und beschließt so lange in seinem Zimmer auszuharren, bis er darauf eine Antwort weiß.
Aus dem Zimmer wird ein Kokon, im Rückzug auf sich selbst glaubt er voranzukommen. Schließlich beginnt Till mit der Kreation einer autarken, nach seinen Regeln funktionierenden Separatwelt: Welt 0 — ein Zufluchtsort für alle, denen die reale Welt zu fordernd oder auch zu eingeschränkt ist. Und Till ist ihr Garant, denn er kämpft nicht nur für sich, sondern für eine ganze Generation, die in ihren Zimmern sitzt.

(Bild- und Textquelle: Berlin Verlag)


Meinung:


Der Begriff Hikikomori, japanisch für “sich einschließen, gesellschaftlicher Rückzug”

Till wächst auf den ersten Blick wunschlos glücklich auf; seine Eltern haben die finanziellen Verhältnisse, um Till viele Dinge zu ermöglichen und ihn zu fördern. Sein Vater ist Schönheitschirurg und seine Mutter Kuratorin in ihrem eigenen Ausstellungsraums. In Till erkennen sie alle möglichen Talente und doch hat er immer wieder Schwierigkeiten. Er besucht eine “freie Waldorfschule” und als er nicht zum Abitur zugelassen wird, bricht für ihn eine Welt zusammen.

Till zieht sich in sein Zimmer zurück und beginnt, sich sonderbar zu verhalten. Entfernt seine Möbel, bricht den Kontakt zu seinen Freunden und zu seiner Freundin Kim ab, verbringt viel Zeit vor seinem Computer, hört auf, sich um sich selbst zu kümmern. Von einem Tag auf den anderen weigert er sich am Familienleben weiter teilzunehmen. Stattdessen begibt er sich in eine fiktive Onlinewelt, spielt ein Spiel namens Medal of Honor, in dem er sich verliert, das für ihn der einzige Inhalt seiner immer gleich verlaufenden Tage wird. Die reale Welt hat Till fallen gelassen, deshalb begibt er sich in eine Welt, die auf einem Server zu Hause ist, mitten hinein in ein V2-Raketen-Szenario.

Aus dem Computerspiel heraus entsteht etwas Größeres: Till erschafft sich eine Parallelwelt, die nach seinen Regeln, nach seinen Wünschen funktioniert.

“ich habe etwas vor, kim. ich will zeit und raum selbst bestimmen. das eine rinnt mir durch die Finger, dem anderen rinne ich durch die Finger. Zumindest will ich selbst bestimmen, was da durchrinnt. alles andere soll an mir abprallen.”

Welt 0. Ein Ort, an den Till und seine Online-Freunde vor der realen Welt flüchten können, ohne ihr Zimmer verlassen zu müssen. Ein Ort, an dem Träume wahr werden können, ohne, dass man dafür wirklich etwas riskieren muss. Ein Ort für all diejenigen, die an den Anforderungen des Alltags, dem Druck, den Verpflichtungen, den Erwartungen zerbrechen. Auch Till spürt dieses “Gefühl eines permanenten, sich nur langsam lösenden Druck”, der schon so lange auf ihm lastet, dass er ein Teil von ihm geworden ist. Diese Gefühle haben Till in die Isolation getrieben.

“Als wäre mein Fenster ein Bildschirm und alles dahinter lediglich ein Bild, ein altbekannter Desktophintergrund, den ich spaltenweise ausradierte. Für mich, der ich seitdem in der Dunkelheit lebe, gibt es außerhalb nichts mehr. Auch meine Erinnerung daran verblasst. Man muss nur die Tür hinter sich zuziehen, und schon ist man auf der Schwelle zu einer anderen Welt. Zu der Welt, die man in sich trägt, die von der Außenwelt unterdrückt wurde, der man die Luft zum Atmen nahm.”

Gemeinsam mit Till erlebt der Leser, was passieren kann, wenn man aus dieser Parallelwelt nicht mehr zurückkehrt, wenn man sich immer stärker in einer Traumwelt verstrickt und den Weg zurück nicht mehr findet.

Im Mittelpunkt seines Romans steht die virtuelle Welt, ihre Grenzen, ihre Gefahren, aber auch der Reiz und die Fluchtmöglichkeiten die dieser Ort für Menschen bietet, die an der Gesellschaft, am Druck, an den Anforderungen zerbrechen. Till glaubt in seiner neuen Onlinewelt wieder jemand zu sein, “ein besonderer Mensch” zu sein. Er ist irgendwann nicht mehr in der Lage dazu zu stehen, dass es auch in der Realität Menschen gibt, die sich um ihn sorgen, die sich für ihn interessieren.

Kevin Kuhn beschäftigt sich in seinem Roman mit einem hochaktuellen Thema unserer Gesellschaft und es gelingt ihm mithilfe seiner Hauptfigur Till einige sehr greifbare Einblicke in mögliche Gefahren und Risiken unserer global vernetzten Welt zu geben.

Ich habe “Hikikomori” sehr gerne und mit viel Interesse gelesen. Die Sprache von Kevin Kuhn ist schnörkellos und lässt sich flüssig lesen. Sprachlich stechen sicherlich Tills Briefe und E-Mails an Kim heraus, die mich besonders begeistert haben. “Hikikomori” ist anders, ungewöhnlich, löst stellenweise die Grenzen zwischen Fiktion und Realität auf, aber es lohnt sich, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Kevin Kuhn rückt Menschen in den Mittelpunkt, die es unter uns heutzutage zu Dutzenden gibt: Menschen, die sich in der virtuellen Welt verloren haben. Ich habe das Buch mit der Hoffnung zugeklappt, dass Till vielleicht irgendwann einen Weg zurück finden wird.


Kevin Kuhn wurde 1981 in Göttingen geboren und lebt heutzutage in Berlin. Er hat Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft studiert, sowie Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Er war Stipendiat des textwerk-Romanautorenseminars des Literaturhaus München und hat 2012 den Gargonza Arts Award gewonnen. “Hikikomori” ist Kevin Kuhns Romandebüt.

Buchtipp von Susanne Heeb

Infos zum Buch:

Kevin Kuhn: “Hikikomori”, 224 Seiten, Berlin Verlag (10. September 2012), ISBN 978-3827011169